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„Wir brauchen die Europäische Union jetzt mehr denn je.“

Frau Schoder-Steinmüller, der 9. Juni ist nicht mehr weit. Wie blicken Sie auf die bevorstehende Europawahl?

Meine Gefühle sind gemischt. Ich hoffe darauf, dass sich die gestiegene Wahlbeteiligung von der letzten Wahl 2019 weiter fortsetzt, zumal 2024 erstmals auch die 16- und 17-Jährigen wählen dürfen. Gleichzeitig befürchte ich, dass der Bevölkerung nicht wirklich klar ist, welche Bedeutung die Europawahl hat. Die Bürger, die politischen Parteien und die Medien halten die Europawahl für weniger wichtig als andere Wahlkämpfe. Gefühlt steht weniger auf dem Spiel, weshalb weniger Menschen zur Wahl gehen. Gleichzeitig genießt die EU nicht das beste Image. Das stimmt sorgenvoll.


Warum ist die Wahl in Ihren Augen denn so wichtig?

In Deutschland wird am 9. Juni gewählt. Die Wahl ist deshalb so wichtig, weil entschieden wird, wie es in den nächsten Jahren in Europa und in Deutschland weitergeht. Denn die meisten unserer Gesetze haben ihren Ursprung inzwischen auf EU-Ebene. Was dort in den Bereichen der Wirtschaft- und Gesellschaftspolitik, aber auch in außenpolitischen Fragen entschieden wird, hat unmittelbare Auswirkungen auf die Lebensbedingungen hier in unserem Land. Das muss noch viel mehr Menschen klar werden und deshalb ist es auch unsere Aufgabe als IHK-Organisation, aber auch als Unternehmerinnen und Unternehmern, unsere vorhandenen Kanäle zu nutzen, um für die Europawahl die Werbetrommel zu rühren. Ob jetzt bei den Mitgliedsunternehmen der IHKs oder den eigenen Mitarbeitenden.

 

Nahezu in allen Wahlen der jüngeren Vergangenheit – zuletzt auch bei der Landtagswahl in Hessen – sind rechtspopulistische Parteien erstarkt. Das ist auch für die kommende Europawahl zu erwarten. Was wären die Folgen?

Da müssen wir unsere Fantasie gar nicht so sehr bemühen. Wachsender Protektionismus und Nationalismus sowie demokratiefeindliche Strömungen und zunehmende Diskriminierung wären die Folge. Mit ernstzunehmenden Konsequenzen für die Wirtschaft und den Wirtschaftsstandort Europa, aber auch Deutschland. Denn eines ist ganz klar: Deutschland – wie viele andere Länder in Europa – ist auf die qualifizierte Zuwanderung angewiesen, um die demografisch bedingte Fachkräftelücke abzumildern. Bis 2035 werden allein in Hessen über 525.000 Fachkräfte fehlen – das Heben inländischer Potenziale, z. B. durch die Steigerung der Frauenerwerbstätigkeit, reicht da bei weitem nicht aus. Deshalb können wir uns Diskriminierung und Ausgrenzung nicht leisten. Was wir wirklich brauchen, ist eine Willkommenskultur, damit Europa und Deutschland als Wunscharbeitsorte attraktiv bleiben. Die hessischen IHKs haben zudem eine gemeinsame Resolution für Demokratie verabschiedet mit denen sie sich zu einer offenen und pluralistischen Gesellschaft bekennen.

 

Zunehmender Protektionismus und nationalistische Strömungen schwächen Europa. Warum kann es für Europa nur den gemeinsamen Weg geben?

Das Miteinander in Europa, die europäische Zusammenarbeit, der EU-Binnenmarkt und der Euro als einheitliche Währung sind für die Wirtschaft und unseren Wohlstand in Deutschland immens wichtig. Würde Deutschland aus EU und Eurozone austreten, rechnet zum Beispiel das Institut der deutschen Wirtschaft mit einem Wohlstandsverlust in Deutschland von bis zu 500 Milliarden Euro jährlich. Mehr als zwei Millionen deutsche Arbeitsplätze wären bedroht. Wir brauchen die Europäische Union, jetzt und in Zukunft mehr denn je.

 

Trotzdem hat die EU wie Sie selbst auch sagen nicht gerade das beste Image. Warum ist das so?

Das hat verschiedene Gründe. Das liegt zum einen am fehlenden Verständnis dafür, wie Parlament, Kommission und Rat Kompromisse aushandeln. Fast niemand kennt die entscheidenden Akteure. Wir brauchen mehr Transparenz und Sichtbarkeit für das, was in der Kommission und im EU-Parlament passiert. Eine bessere Berichterstattung dazu wäre sehr wünschenswert. Dazu kommt: Viel zu häufig wird die EU auch zum Sündenbock gemacht, wenn es im eigenen Land Probleme gibt. Da fehlt der EU auch zu oft die Fähigkeit ihre Lösungsansätze überzeugend zu erklären. Und dann ist da noch das große Thema der Überregulierung.

 

Da wären wir dann beim vielfach geforderten Bürokratieabbau…

Richtig. Für die Unternehmen ist die EU gewissermaßen Fluch und Segen zugleich. Die hessischen Unternehmen schätzen die politische Stabilität und den gemeinsamen Währungsraum, die die europäische Integration mit sich gebracht hat. Eine hohe Bürokratiebelastung und Regulierungsdichte haben jedoch zu einer Verschlechterung der Standortbedingungen geführt. Das ist das Ergebnis des Unternehmensbarometers der DIHK zur Europawahl mit der Auswertung für Hessen. Da verwundert es auch nicht, dass sich satte 94 Prozent der hessischen Unternehmen für die kommende Legislaturperiode wünschen, dass vor allem Bürokratie abgebaut wird. Weitere wirtschaftspolitische Themen mit hoher Relevanz sind die Sicherstellung der Energieversorgung (67 Prozent) sowie die Stärkung der allgemeinen Wettbewerbsfähigkeit (54 Prozent). Auch die hat in den letzten Jahren stark gelitten.

 

Was wünschen Sie sich persönlich für die Zeit nach der Europawahl?

Die EU muss es nicht zuletzt um ihrer selbst willen schaffen, die Bürgerinnen und Bürger stärker für sich zu begeistern und ihre Politik besser zu erklären. Unternehmen wiederum brauchen mehr Liberalität, mehr Marktwirtschaft und viel weniger Regulierung. Wir brauchen Digitalisierung, Schnelligkeit und Innovation, statt immer neuer immer kleinteiligerer Vorgaben und Berichtspflichten. Nur so können wir im globalen Wettbewerb weiter mithalten. Ich hoffe sehr, dass es Frau von der Leyen mit der Deregulierung ernst ist. Es wäre auf jeden Fall ein guter Ansatz für die nächste Amtszeit.

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